„Vor allem bei der medizinischen
Dokumentation fehlt es noch an
Interoperabilität“

Interview mit Sylvia Thun1 und Sebastian Krolop2

1 Konsortium „Digital Radar“, 2 HIMSS

Der Staat treibt die Digitalisierung der Krankenhäuser seit Inkrafttreten des Krankenhauszukunftsgesetzes im Oktober 2020 mit einem Förderprogramm weiter voran und lässt den Digitalisierungsfortschritt vom Konsortium „Digital Radar“ regelmäßig messen. Prof. Dr. med. Sylvia Thun, der Leiterin des Konsortiums, und Dr. Sebastian Krolop vom Konsortialpartner HIMSS, einer Non-Profit-Organisation, die die Transformation von Gesundheit informativ und technologisch unterstützt, sprechen mit McKinsey über den Status quo und Zukunftsaufgaben beim Datenaustausch in Krankenhäusern.

Prof. Dr. Sylvia Thun

Prof. Dr. Sylvia Thun

Prof. Dr. Sylvia Thun ist approbierte Ärztin, Ingenieurin für biomedizinische Technik und seit 2011 Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen an der Hochschule Niederrhein. Seit 2018 ist sie zudem Gastprofessorin an der Charité und Direktorin für E-Health und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung der Stiftung Charité. Als Expertin für nationale und internationale IT-Standards im Gesundheitswesen forscht sie vor allem zu Themen wie der eGA und dem eRezept.

Dr. Sebastian Krolop

Dr. Sebastian Krolop ist Vorstand (Global Chief Operating und Strategy Officer) der HIMSS (Healthcare Information and Management System Society), Chicago, IL, USA. Als promovierter Arzt startete Krolop seine Karriere am Universitätsklinikum Heidelberg in der Klinik für Anästhesiologie. Als Berater war er bei der Boston Consulting Group in Frankfurt tätig, bevor er geschäftsführender Gesellschafter der ADMED wurde. Bei Accenture war er „Partner Strategy Consulting Healthcare“ für Deutschland, Österreich und die Schweiz, bei Philips war er „Vice President and Partner Healthcare Transformation Services“ für Europa, den Mittleren Osten und Afrika. Bevor er Vorstand bei der HIMSS wurde war er Partner und Industry Lead Life Science and Health Care bei Deloitte.

Das Thema Interoperabilität im Krankenhaus ist für Patient:innen wie Mediziner:innen gleichermaßen wichtig. Aber es ist auch sehr komplex. Aus ihrer Erfahrung als Medizinerin: Wie sieht der derzeitige Status in den meisten Krankenhäusern konkret aus?

Prof. Dr. Sylvia Thun

Thun: Interoperabilität umfasst verschiedene Bereiche und umfasst technische, semantische, organisatorische, rechtliche und ethische Aspekte. In Krankenhäusern existieren zahlreiche unterschiedliche Arbeitsbereiche wie Normal-Stationen, Intensiv-Station, diagnostisches Labor, Radiologie etc. und in manchen funktioniert die Interoperabilität schon sehr gut. Bei dem nahtlosen Datenaustausch unterschiedlicher Systeme kommt es auf die Tiefe der Daten an. Simple Angaben wie Vornamen, Nachnamen, Geschlecht und Geburtsdatum können in den meisten Systemen interoperabel ausgetauscht werden. Medizinische Befunde werden dagegen nicht in alle Systeme übermittelt. Bei Diagnosen und Prozeduren sind wir ein bisschen weiter, weil diese Informationen wichtig sind für die Abrechnung.

Wie zufrieden sind Sie aus Sicht der gemeinnützigen Organisation HIMSS mit dem aktuellen Stand?

Thun: Natürlich sind viele Systeme in Krankenhäusern interoperabel, sonst könnte man gar nicht arbeiten. Aber an jeder Ecke fehlt es an weiterer, vor allem medizinischer Dokumentation, die dann in andere Systeme überführt wird.

Wer profitiert denn aus ihrer Sicht am meisten von einem funktionierenden Datenaustausch in den Kliniken?

Thun: Das Ziel ist die qualitativ hochwertige Behandlung der Kranken. Dafür brauchen wir die Daten zu den Patient:innen wie zu ihren Therapien, etwa Daten zu Arzneimitteln und der Zulassungsbehörden. Um auf dieser Basis zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung treffen zu können, müssen sie allen Beteiligten zur Verfügung stehen. Gerade die Pandemie hat uns gezeigt, dass dieser Austausch Leben rettet. Zum Beispiel wurden die Laborschnittstellen beim Robert-Koch-Institut (RKI) letztes Jahr erst spezifiziert, um mit den korrekten Zahlen besser zu handeln.

Um hier etwas tiefer einzusteigen: Gibt es aus ärztlicher oder pflegerischer Sicht noch weitere Vorteile neben den besseren Patientenentscheidungen?

Thun: Immer mehr Ärzt:innen finden ihren Beruf unattraktiv, weil sie oft mehr Zeit am Schreibtisch als bei den Patient:innen verbringen. Im Schnitt vier Stunden ihres Arbeitstages verschlingt allein die Dokumentation. Teilweise müssen Laborwerte von einem Blatt auf das andere händisch übertragen werden. Das müssen wir mithilfe der Interoperabilität abschaffen. Erst dann sind Informationen dort, wo sie gebraucht werden: vor Ort bei den Patient:innen. Das macht eine attraktivere Medizin aus.

Sie beleuchten das Thema Datenaustausch aus internationaler Sicht. Funktioniert es woanders besser?

Krolop: Frau Thuns Einschätzung ist absolut richtig. Aus Sicht der Nutzer:innen ist der derzeitige Status extrem unbefriedigend. Nicht nur in Deutschland. Auch international ist das Problem ungelöst, dass die Datenerhebung, -verteilung und -verwertung nicht standardisiert oder gar automatisiert ist. Es gibt unterschiedliche Systeme, die per Default nicht miteinander kommunizieren können, weil es konkurrierende Standards gibt. Nahezu jeder Hersteller versucht, eigene Standards aufzubauen. Das steht der Interoperabilität im Weg.

Gibt es denn aus ihrer persönlichen Erfahrung oder der Sicht von HIMMS auch positive Beispiele?

Krolop: Simpel gesagt funktioniert es immer da gut, wo man sich auf einen Standard einigt. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten:


Entweder gab es eine unternehmerische Führungsentscheidung, ein System einzuführen, das sehr vieles darstellen kann. Das sind dann aber oft nicht die preiswertesten Systeme und trotzdem haben sie Schwächen.
Oder die nötigen Standards werden regulatorisch vorgegeben und mittels finanzieller Anreize durchgesetzt. Beide Vorgehensweisen haben allerdings Nachteile.

Liegt das an der Technik oder an den Entscheidern?

Krolop: Es scheitert häufig an der Bereitwilligkeit der Krankenhäuser. Obwohl sich bei Befragungen viele Krankenhäuser für Standardisierung aussprechen, möchte selten ein Krankenhaus sein bisheriges System aufgeben. Auch die Hersteller waren zumindest in der Vergangenheit nicht gerade offen dafür, ihre Schnittstellen offenzulegen und Standardisierungsbestrebungen voll zu unterstützen. Wenn eine Standardisierung nicht wirklich von allen Beteiligten gewollt wird, ist sie schwierig umzusetzen.

Prof. Dr. Sylvia Thun

Thun: Ich möchte das gern noch ergänzen. Es reicht nicht, offiziell einen Standard festzulegen. Standards sind generell komplex und müssen noch an die jeweiligen Länder und Anwendungsszenarien angepasst werden. Die Idee, dass die Stakeholder des Gesundheitssystems an einem internationalen Standard mitentwickeln anstatt eine eigene neue, proprietäre Spezifikation zu erstellen, hat Deutschland bisher nicht verstanden.

Was meinen Sie damit konkret?

Thun: Es ist ein Fehler, einen Standard einfach zu „konsumieren“. Was wir uns jetzt leisten, indem wir ein Herrschaftsdenken zulassen hinsichtlich der Standardisierung, ist daher fatal. Nicht wer die Macht hat, setzt die Standards, sondern wer sich in der Community etabliert und mit ihr zusammenarbeitet. Wir müssen den Standard mit der internationalen Community weiterentwickeln und sollten diesen an die Gegebenheiten hierzulande anpassen, wo nötig.

Das sind interessante Einblicke. Was wird sich ihrer beider Meinung nach durch das Krankhauszukunftsgesetz (KHZG) ändern?

Thun: Das KHZG kann der Digitalisierung im Krankenhaus sicherlich einen Schub geben. Aber auch mit den dafür eingeplanten 4.3 Milliarden Euro lassen sich noch nicht alle Probleme lösen. Um von der Unterfinanzierung der Digitalisierung wegzukommen, müssen wir wie andere Industrieländer auf 5 Prozent, wenn nicht gar 10 Prozent des Krankenhausbudgets kommen. Aktuell investieren wir darin gerade mal 1 Prozent des Krankenhausumsatzes. Darunter leiden die Softwaresysteme. Dabei sind die Ansprüche dort groß: Die Systeme müssen untereinander kommunizieren, interoperabel sein, in die Prozesse passen und nicht nur gekauft, sondern auch installiert werden. Das sind alles Dinge, die in der vom KHZG vorgesehenen Reifegradmessung abgefragt werden. Darauf basierend kann ein Krankenhaus sich im internationalen Wettbewerb einordnen. Ein nationales Reifegradschema erlaubt es zudem, sich mit anderen Krankenhäusern im Land zu vergleichen.

Prof. Dr. Sylvia Thun

Krolop: An zwei Stellen hätte ich mir noch mehr Mut erhofft. Zum Beispiel bei der Frage, ob die Bundesländer wirklich die richtige Wahl für die Finanzierung der Investitionskosten sind. Sie schaffen es zu selten, für die Gesamtinvestitionskosten aufzukommen. Dadurch müssen einige Krankenhäuser neue Investitionen aus den Betriebsergebnissen heraus tätigen. Mehr Mut würde auch dabei helfen, die aktuellem Prozesse und Strukturen infrage zu stellen. Anstatt einen komplexen Prozess eins zu eins zu digitalisieren, wäre es manchmal sinnvoller, den Prozess generell zu ändern, schlanker und effizienter zu machen.

Wie wir wissen gibt es unterschiedliche Förderbestände und ein Krankenhaus besteht ja aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Wo sehen Sie derzeit den größten Bedarf?

Prof. Dr. Sylvia Thun

Thun: Den größten Bedarf sehe ich in zwei Bereichen: innerhalb der Krankenhäuser und bei der Kommunikation nach außen. Intern sollte man das Leistungsstellenmanagement ausbauen und verbessern, die internen Prozesse analysieren und eine bessere medizinische Dokumentation ermöglichen. Das lässt sich durch Vorgaben für strukturierte Befundberichte umsetzen. Das Ziel ist es, die Mediziner:innen zu entlasten und die Informationen interoperabel als Daten und nicht als Dokumente zur Verfügung zu stellen.


Zudem sollte sich das Ökosystem Krankenhaus kommunikativ stärker nach außen öffnen. Arztbriefe könnten zeitnaher versandt werden, sodass Patient:innen Terminabsprache machen können oder bereits ihren Anamnesebogen vor dem Klinikaufenthalt ausfüllen können.

Krolop: Davon abgesehen glaube ich allerdings nicht, dass es einen Bereich gibt, den man besonders fördern müsste. Bei der Digitalisierung sollten wir das große Bild nicht aus den Augen verlieren. Es geht nämlich um die Frage, wie sich das Gesundheitswesen generell neu aufstellen wird. Zuletzt hat das Gesundheitswesen 15 Jahre lang technologisch stagniert. Doch jetzt sehen wir bereits neue Geschäftsmodelle, die Gesundheitsdaten anders als bisher nutzen. Hier muss der Mehrwert erkannt werden, statt wie bisher in mehreren Sektoren den Datenfluss nicht zuzulassen. Ich habe das Gefühl, dass die Krankenhäuser das Problem bisher nicht bedarfsorientiert aus der Sicht der Patient:innen betrachten.

Erfolg quantitativ zu belegen ist hier nicht einfach. Welche Key Performance Indicators (KPIs) oder Metriken wird es aus Ihrer Sicht geben, um Interoperabilität beziehungsweise den Fortschritt in der Digitalisierung beim KHZG zu messen?

Thun: Die Interoperabilität ist per se mit KPIs messbar. Aber es wird nicht so sein, dass wir nur die Technologien messen sollten. Entscheidend ist es nicht abzufragen, wie viele Nachrichten der Kommunikationsserver täglich durchschleusen kann, sondern welche Prozesse dahinterliegen und durch neue Technologien besser abgebildet werden können. Ist es zum Beispiel möglich, die Laborwerte zeitnah im Haupt-Krankenhausinformationssystem (KIS) integriert zu sehen? Wie wird die Telematikinfrastruktur (TI) integriert, die noch nicht ganz da ist (eRezept, elektronische Medikationspläne, digitaler Impfausweis), und wie die elektronische Patientenakte (ePA)?

Prof. Dr. Sylvia Thun

Krolop: Das ist richtig. Wir wollen uns anschauen, welchen Nutzen die Digitalisierung hat und was damit erreicht wird. Wir fragen zum Beispiel, was vonnöten ist, um bestimmte Prävalenzen zu verringern, welche Faktoren diese Werte beeinflussen, wie diese gemessen werden können und wie sich nachhaltig sicherstellen lässt, dass die verschiedenen Treiber verstanden werden? Das ist eine Herangehensweise, die wir spannend finden.

Es gibt auch große Aufgaben. Was kann Deutschland bei der Digitalisierung der Krankenhäuser dafür vom Ausland lernen?

Prof. Dr. Sylvia Thun

Thun: Erfolgreiche Länder haben eine klare Strategie hin zu Standards und Koordinierungsstellen, wie etwa das Office of the National Coordinator for Health Information Technology in den USA. Dieses bildet eine Community mit den Stakeholdern des Gesundheitssystems. Von der elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) in Österreich haben wir gelernt, dass Software implementieren muss. In Deutschland wollen wir ja immer ganz präzise sein und scheuen Fehler. Wir sollten stattdessen eine Fehlerkultur etablieren, Dinge auf den Weg bringen und aus Irrtümern lernen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, denn darüber schwebt bei uns in Deutschland das Damoklesschwert des Datenschutzes. Dieser wird zum Teil instrumentalisiert, um Änderungen zu verhindern.

Krolop: Es gibt international Beispiele dafür, was bei der Digitalisierung der Krankenhäuser funktioniert und was nicht. Die nützlichen Elemente können wir weiterentwickeln. Wir haben eine gute Grundsubstanz für eine klare Strategie hin zu Standards und das Geld, diese Konzepte umzusetzen. Das müssen wir allerdings jetzt tun, denn sonst werden private Unternehmen kommen und das Feld übernehmen, die im Zweifel eher weniger auf den Datenschutz achten als die Stakeholder unseres Gesundheitssystems. Daher bin ich ganz ehrlich dafür, in puncto Datenschutz einen besseren, klügeren und konsolidierten Ansatz zu wählen.

Gibt es Aspekte, die aus Ihrer Sicht in dieser Debatte oft noch zu kurz kommen?

Thun: Mir ist noch wichtig, dass die Industrie nicht als Feind, sondern als Enabler gesehen wird, der den Weg in die Zukunft mit vorbereitet. In Deutschland wird das leider nicht oft so gesehen. Das ist natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass die KIS hochkomplex sind und bisher nicht sehr anwenderfreundlich waren. Um den schlechten Ruf der Industrie etwas zu heilen, müssen wir angleichen, was die Anwender:innen benötigen und was bisher geht. Dafür braucht es mehr Wettbewerb. Möglicherweise wird die Umstellung auf SNOMED in Deutschland das begünstigen.

Prof. Dr. Sylvia Thun

Krolop: Das Gesundheitssystem muss als ein digitales Ökosystem mit verschiedenen Playern verstanden werden und nicht nur als Thema der Krankenhäuser. Deshalb ist die Digitalisierung kein Technik , sondern ein Vorstandsthema. Aber noch nicht alle Vorstände haben verstanden, dass sie sich selbst darum kümmern und die richtigen Talente anwerben müssen. Denn der Fokus muss auf eigenen Lösungen liegen. Das ist zeit- und ressourcenintensiv, aber alternativlos. Wer das noch nicht verstanden hat, sitzt bereits nur noch halb auf seinem oder ihrem Stuhl.

Das Gespräch führte Tobias Silberzahn.