Wie China den medizinischen
Fortschritt prägen
und damit auch das deutsche
Gesundheitswesen verändern wird
Frank Sieren im Interview mit Dr. Andreas Meusch

Frank Sieren ist einer der führenden deutschen China-Experten. Der Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer lebt seit 1994 in Peking – länger als jeder andere westliche Wirtschaftsjournalist. Er hat als Korrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“, die „WirtschaftsWoche“, die „Zeit“, das „Handelsblatt“, den „Tagesspiegel“ und die „Deutsche Welle“ gearbeitet und schreibt nun auch für das Entscheider-Medium Table.China, das erste und einzige tägliche deutsche Chinabriefing. Frank Sieren hat mehrere Spiegel-Bestseller über China geschrieben, sein neuester Bestseller ist „Shenzhen – Zukunft made in China: Zwischen Kreativität und Kontrolle, die junge Megacity, die unsere Welt verändert.“

Das Interview führte Dr. Andreas Meusch.

Frank Sieren

Frank Sieren gilt als „einer der führenden deutschen China-Spezialisten“ (Die Zeit). Er verfügt über ein Vierteljahrhundert Erfahrung als Korrespondent und Kolumnist für verschiedene Tageszeitungen und Wirtschaftsmagazine (Süddeutsche, Wirtschaftswoche, Die Zeit, Handelsblatt, Tagesspiegel) und lebt seit 27 Jahren in Peking. Frank Sieren hat die meisten China-Bestseller in Deutschland geschrieben und seine China-Dokumentarfilme laufen bei ARD und ZDF. Er schreibt auch für den China.Table, das tägliche deutsche China Briefing. Sein neuester Bestseller ist „Shenzhen – Zukunft made in China: Zwischen Kreativität und Kontrolle, die junge Megacity, die unsere Welt verändert“. Darin dreht sich ein ganzes Kapitel („Heilen“) um die Innovationen im chinesischen Gesundheitssystem.

Dr. Andreas Meusch

Andreas Meusch ist Beauftragter des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK) für strategische Fragen des Gesundheitssystems und Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). Vor seiner Tätigkeit für die TK war er Leiter der Landesvertretung Baden-Württemberg der Ersatzkassenverbände und Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Er hat Politik, Geschichte und Publizistik in Mainz, Dijon und Krakau studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für internationale Politik der Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz.

Herr Sieren, in Ihrem neuesten Buch über die Zukunftsmetropole Shenzhen in China beschreiben Sie auch Chinas größte Versicherung und ihre App zur Gesundheitsversorgung „Ping An Good Doctor“ (PAGD). Über dieses Tool kommuniziert das Unternehmen mit fast 300 Millionen Mitgliedern. Was ist das Besondere an dieser App?

Die Kunden können über die App unkompliziert zu 1.000 Ping-An-Ärzten Kontakt aufnehmen, die eine erste Ferndiagnose machen und ihre Patienten bei Bedarf an Spezialisten weiterleiten. Die App kümmert sich auch darum, dass man einen Termin im Krankenhaus bekommt. Und auch Medikamente können online geordert werden. Die Vision von Ping An ist, dass es für jede Mitgliedsfamilie einen kostenlosen Online-Familiendoktor gibt. Ping An ist überzeugt, mit dieser App und ihren Ärzten Krankheiten früher erkennen und damit Behandlungskosten senken zu können. Zudem sollen die Ärzte ihre Patienten frühzeitig zu einem gesunden Lebensstil animieren.

Das kann aber nur funktionieren, wenn Ping An Zugriff auf die Daten hat.

Ja, und die Akzeptanz dafür ist in China viel größer als in Deutschland. Während der Corona-Bekämpfung ist sie sogar gestiegen, weil die Digitalisierung und die Nutzung der Daten wesentlichen Anteil daran haben, dass China die Pandemie relativ gut überstanden hat. Die Zahl der Klicks auf PAGD hat sich während der Epidemie rund verzehnfacht: auf 1,11 Milliarden. Es hat nun 400 Millionen registrierte User ein Wachstum von 15 %im Vergleich zum Vorjahr. Sie bauen derzeit über 200 Internetkrankenhäuser auf.

Datenschutz, wie wir ihn kennen, gibt es aber kaum.

Das kann man so pauschal nicht sagen. Wang Tao, der Vorstandsvorsitzende von Ping An, betont immer wieder, dass er nicht nur allumfassende und qualitativ hochwertige Medizin- und Gesundheitsdienste zur Verfügung stellen will, sondern dass dabei auch die Privatsphäre der Menschen geschützt ist. China hat erst 2021 ein Gesetz zum Schutz von privaten Daten erlassen, das sich in vielen Bereichen an der Europäischen Datenschutzgrundverordnung orientiert. Dies gilt aber nicht gegenüber dem Staat. Die Zugriffsmöglichkeiten, die sich der chinesische Staat vorbehält, sind mit deutschen und europäischen Rechtsvorstellungen noch völlig unvereinbar. Bei Unternehmen ist das anders. Das Gesetz zeigt jedoch: Das Datenschutzbewusstsein wächst. Sonst hätte die Regierung nicht reagieren müssen.

Die Zugriffsmöglichkeiten, die sich der chinesische Staat vorbehält, sind mit europäischen Rechtsvorstellungen noch völlig unvereinbar.

Wieso akzeptieren die Menschen, dass Datenschutz gegenüber dem Staat nicht gilt?

Sie nehmen den Spatzen in der Hand. Und sehen dann weiter. Die Chinesen sind sich der Ambivalenz des digitalen Fortschritts sehr wohl bewusst. Sie genießen es, dass man im öffentlichen Nahverkehr, in Geschäften und Restaurants nicht mehr Tickets lösen oder in der Schlange an der Kasse warten muss, sondern per Smartphone in Sekundenschnelle bezahlen kann. Inzwischen geht es manchmal sogar schon ohne Smartphone nur über Gesichtserkennung. Dafür nehmen sie den unkontrollierbaren Fluss ihrer Daten in Kauf. Das Gleiche gilt im Krankenhaus, sie werden schneller und umfassender behandelt, aber dafür zirkulieren ihre Daten. Derzeit ist ihnen die bessere Behandlung wichtiger. Aber das Bewusstsein für Datenschutz wird reifen in dem Maße, in dem man sich an neue Methoden gewöhnt und sie für selbstverständlich nimmt. Ich habe das ähnlich bei Umweltbewusstsein in China erlebt. Erst wollten alle nur Geld verdienen und haben ihren Müll in den nächsten See gekippt. Mit wachsendem Wohlstand kam dann die Einsicht, dass das so nicht geht. Ähnlich wird es auch beim Datenschutz sein. Auch hier werden die Chinesen eine Balance finden. Ich bin sicher, dass das Bewusstsein für den Schutz persönlicher Daten in einem Maße wachsen wird, dass der Staat das nicht ignorieren kann. Die Frage ist eigentlich nur, wie schnell das geht.

Die Menschen stimmen aber aktuell mehr oder weniger freiwillig zu, dass ihre Daten von ihrer Krankenversicherung genutzt werden.

Je mehr Daten der Künstlichen Intelligenz zur Verfügung stehen, desto verlässlicher die Früherkennung.

Wie wir zustimmen, dass Facebook oder Google unsere Daten an Werbekunden verkauft. Wir zahlen ja gewissermaßen mit unseren Daten für die Nutzung des Services. So zahlen die Nutzer von PAGD mit ihren Daten für das Versprechen einer guten Versorgung und die frühzeitige Erkennung von Krankheiten. Je mehr Daten der auf Künstlicher Intelligenz basierenden Software zur Verfügung stehen, desto verlässlicher die Früherkennung. Und weil die Daten gebraucht werden, bieten Krankenhäuser Vorsorgeuntersuchungen sehr preiswert an.


Es ist möglich, in einem Krankenhaus in Peking innerhalb eines Vormittags praktisch alle relevanten Untersuchungen zu machen, die für einen umfassenden Check-up nötig sind, vom Zahnarzt bis zum Proktologen gewissermaßen. Alle fünf Minuten eine Station. Das ist nicht nur praktisch und zeitsparend. Die meisten Chinesen wissen, dass man mit den Daten, die dabei generiert werden, nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch die Gesundheit vieler anderer Menschen verbessern kann.

Und die Daten dürfen auch unbegrenzt gespeichert werden?

Gerade von der langfristigen Speicherung der Daten verspricht man sich große Vorteile. Wenn jemand eine schwere Krankheit wie Krebs bekommt und man über lange Zeitreihen mit seinen Daten verfügt, kann man nicht nur die Therapie im Einzelfall optimieren, man lernt außerdem viel über mögliche Ursachen einer Krankheit und kann also wirksamere Prävention betreiben und neue Therapieoptionen entwickeln. Das bedeutet ja nicht, dass man diese Daten immer mit einem Namen verbinden muss. Darüber wird es sicherlich noch ausführliche Debatten geben. Denn die Gefahr des Missbrauchs ist natürlich immer da. Auch wenn der Staat erst einmal in guter Absicht handelt.

Indem er darüber auch die Kosten der Gesundheitsversorgung im Griff behält …

Das ist ein sehr wichtiges Ziel. Auch China hat ein Demografieproblem, die Bevölkerung altert schnell. Zudem führt der wachsende Wohlstand auch zum Anstieg von Zivilisationskrankheiten. Das ist ein großes Problem für die Regierung.

Sie haben davon gesprochen, dass die Gesundheitskosten ein relevantes Problem für den chinesischen Staat sind. Wird das auch dazu führen, dass der Staat mit diesem Argument Zugriff auf Gesundheitsdaten einfordert, weil er nur so meint, die Gesundheitskosten im Griff zu behalten?

Das halte ich nicht für ausgeschlossen.

In einem Interview für das Kulturmagazin „Titel, Thesen Temperamente“ haben Sie erläutert, dass die Daten auch genutzt werden können, das Krankheitsrisiko neu zu bewerten und sogar die Krankenversicherungsbeiträge zu erhöhen. Kann ich meinen Versicherungsschutz auch verlieren, wenn ich mich nicht aktiv genug um meine Gesundheit kümmere?

Das geht ein wenig zu weit. Aber man denkt darüber nach, den Lebensstil mit der Höhe des Versicherungsbeitrags zu kombinieren, und probiert in dieser Hinsicht vieles aus.

Gehört dazu auch die Verbindung von Krankenversicherung und dem sozialen Punktesystem, dem Social Scoring?

Auch das Social Scoring ist noch in der Testphase. Dazu gehört auch zu überlegen, ob es für Rauchen oder täglichen Fleischkonsum Minuspunkte geben sollte. Akzeptanz in der Gesellschaft gibt es dafür, bei den besseren Gebildeten sogar überproportional. Dahinter steht auch die Erwartung, dass der Staat in China viel früher intervenieren muss als in Europa. Die schiere Anzahl der Menschen verlangt andere Strategien als im Westen. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen hat natürlich eine ganz andere Dimension. Dass der Staat da gegensteuern muss, ist akzeptiert. Die Diskussionen um den Fleischkonsum der Chinesen wird immer virulenter. Würden die Chinesen so viel Fleisch pro Kopf konsumieren wie die US-Amerikaner, wäre das eine Katastrophe für das Gesundheitssystem und für das Klima.

Stimmt der Eindruck, dass die chinesische Gesellschaft und der chinesische Staat sehr stark auf technischen Fortschritt und wissenschaftliche Forschung setzen? Was bedeutet das für die medizinische Forschung?

Die chinesische Gesellschaft möchte wieder an die Weltspitze, was das Thema Innovationen betrifft.

Die chinesische Gesellschaft ist technikhungrig. Die Menschen möchten wieder an die Weltspitze, was das Thema Innovationen betrifft, so wie in den Blütezeiten Chinas. Und als Teil einer Aufsteigergesellschaft sind sie eher offen für Neues. Sie handeln unter dem Druck eines kollektiven Traumas, das Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Damals haben sie aus einer Mischung aus Überheblichkeit und Lethargie einen entscheidenden Fehler gemacht. Sie haben einen globalen Innovationsschub verpasst, die industrielle Revolution der Europäer. Sie konnten sich schlicht nicht vorstellen, dass diese eigenartigen Engländer am anderen Ende der Welt auf dieser regnerischen Insel irgendetwas besser erfinden könnten als die Chinesen selbst. Dies hat dazu geführt, dass China wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten ist, die sozialen Unruhen zunahmen und die Politik schließlich die Kontrolle über das Land verloren hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts musste der Kaiser abdanken und das Land versank in einem Bürgerkrieg. Es schien wahrscheinlich, dass dieses über Jahrhunderte hinweg so erfolgreiche Reich in mehrere Teile zerbrechen würde. Das konnte Mao im letzten Moment verhindern, aber es ist ihm nicht gelungen, trotz vieler Millionen Menschen, das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen. Das hat dann sein Nachfolger Deng Xiaoping geschafft, in dem er das Land für ausländische Investitionen geöffnet hat. China wurde die Fabrik der Welt und ist heute in einigen Bereichen wieder Innovationsführer. Die Angst der Politik, einerseits die Kontrolle zu verlieren, andererseits nicht innovativ genug zu sein, ist geblieben. Die Narben der historischen Niederlage schmerzen noch. Und deswegen ist die chinesische Politik geprägt von dieser für uns befremdlichen Mischung aus mehr Kontrolle im Einparteiensystem und mehr Innovation in freier Marktwirtschaft. Das eine beunruhigt uns, das andere imponiert uns.

Wie müssen wir uns die chinesische Forschungspolitik vorstellen? Gibt es dort etwas wie in Deutschland Fraunhofer- oder Helmholtz-Institute?

In China geht es weniger um Grundlagenforschung, sondern mehr um alltagspraktische Produkte oder Services. Wichtig dabei: Der Staat hat verstanden, dass er nicht bestimmen kann, was und wie geforscht werden muss, sondern dass er Innovationscluster schaffen muss, also Orte mit genügend Forschern, genügend Geld und Infrastruktur, die dann im Wettbewerb miteinander um die beste Forschungsrichtung und die -ergebnisse ringen. Die Förderung von Start-ups spielt dabei eine große Rolle. Und der Staat schließt auch schon mal seine Märkte, um eigene Player in Ruhe aufbauen zu können. Alibaba und Tencent sind entstanden, weil Amazon, Twitter und Facebook in China geblockt sind. Das ist sehr pragmatisch für ein politisches System, das aus der Planwirtschaft kommt, und es führt dazu, dass die Chinesen in der Forschung viel schneller aufholen, als man das im Westen erwartet hatte.


Das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Während die staatliche Bürokratie sich am Anfang mit einer angemessenen Reaktion schwertat, hat die Wissenschaft Forschungsergebnisse sehr schnell vorgelegt. Diese konnte man bereits Ende Januar, Anfang Februar 2020 in westlichen wissenschaftlichen Zeitschriften lesen. Westliche Virologen und Mediziner sprechen in der Regel mit großer Hochachtung von ihren chinesischen Kollegen. Natürlich ist man in China noch nicht in allen Bereichen auf dem Niveau westlicher Forschung, aber durchaus in zentralen Bereichen wie dem E-Auto, Künstlicher Intelligenz oder 5G-Netzwerken.

Perspektivisch müssen wir also damit rechnen, dass China eine treibende Kraft auch in der medizinischen Forschung wird?

Davon bin ich überzeugt, was auch daran liegt, dass China unkonventionelle Wege in der Forschung geht und gehen muss, weil die Probleme so groß sind.


Traditionell forscht man so, Schritt für Schritt vorzugehen und auf vorhandenen Erkenntnissen aufzubauen. Die Chinesen gehen anders vor, sie schießen lange Pässe in den freien Raum und schauen, was geht, um es mit einer Metapher aus dem Fußball zu beschreiben: Sie forschen wie eine junge, frische Mannschaft, die nicht den systematischen Spielaufbau beherrscht, sondern einfach den Ball unkonventionell nach vorne drischt. Das geht fünfmal schief, beim sechsten Mal fällt das Tor.

Und anders als beim Fußball gibt es bei der Forschung keine Begrenzung der Mitspielenden. Da können die Chinesen nicht zu Unrecht daraufsetzen, dass Quantität absehbar in Qualität umschlägt.

Und diese Strategie zeigt schon Erfolge. Ein Beispiel: Wenn es darum geht, Getreide resistenter und ertragreicher zu machen, sind die Chinesen so vorgegangen, dass sie ein Protein, das bei Menschen für die Fettleibigkeit zuständig ist, in Pflanzen verbaut haben. Zur großen Überraschung der Welt ist es ihnen dabei gelungen, das Wachstum dieser Pflanzen um 50% zu erhöhen und die Resistenz gegenüber Dürre zu verbessern. Das war schon sehr unwahrscheinlich, dass die Forschungen dieses Ergebnis haben würden. Auch spielte wieder der Staat eine Rolle. Er hat ihnen zugestanden, die Schnapsidee zehn Jahre auszutesten. Solches Denken brauchen wir mehr sowohl im Westen als auch in China. Und es besteht die Hoffnung, dass der frische chinesische Wind auch in den Westen wehen wird. Im Falle der Getreideforschung hat es geklappt. Inzwischen arbeiten die Chinesen mit der Universität Chicago zusammen.

Außer unkonventionellen Forschungsansätzen hat China noch einen Vorteil: Künstliche Intelligenz lernt schneller und kommt damit zu deutlich valideren Ergebnissen, je mehr Daten ausgewertet werden können. Da müssten die Chinesen doch unschlagbar sein bei der großen Zahl der Menschen, deren Bereitschaft, ihre Daten nutzen zu lassen und den geringeren Datenschutzanforderungen als in Europa.

Darüber ist man sich natürlich im Klaren, übrigens auch über die Tatsache, dass sich dies nicht einfach in den Westen verpflanzen lässt. Die Verfügbarkeit unfassbarer Datenmengen hat zwei Ziele:

  1. Wo es geht, den Menschen durch Roboter entlasten: Es gibt schon Roboter in China, die die sehr schwierige Medizinprüfung mit Bravour bestanden haben, sie haben es unter die Top vier des ganzen Landes geschafft. Vorsprung durch Technik: In China wird das konsequent umgesetzt. Das bedeutet nicht, dass Roboter Ärzte ersetzen können, aber sie ihnen bei zeitraubenden Arbeiten im Rahmen der Diagnose unter die Arme greifen, sodass am Ende bestenfalls mehr Zeit für den sozialen Umgang mit den Patienten ist.
  2. Der Gegensatz zwischen weit entwickelten Städten und dem Land verringern. Das gilt auch für die medizinische Versorgung. Dass Menschen auf dem Land schlechter versorgt sind als in der Stadt, und zwar dramatisch schlechter, birgt enormen politischen Sprengstoff. Tief im Westen hat man das 19. Jahrhundert noch kaum verlassen, in den Städten ist man schon im 21. Jahrhundert angekommen. Die Hoffnung ist, diese soziale Spannung durch intelligente Technik zu entschärfen. Ohne Telemedizin, Entlastung von Ärzten und Pflegepersonal durch Künstliche Intelligenz und gute Verfügbarkeit von Daten sowie innovative Wissensmanagementsysteme lässt sich die Schere in der Versorgung zwischen Stadt und Land unmöglich schnell schließen. Es gibt keine Alternative dazu. Und die Zeit drängt. Die Menschen auf dem Land sind nicht unendlich geduldig. Die Ungeduld der Bevölkerung ist ein wichtiger Faktor, der der Zentralpolitik Beine macht, auch wenn sie nicht gewählt wird. Und da ist sie wieder, die Angst vor dem Kontrollverlust.

Es gibt schon Roboter in China, die die schwierige Medizinprüfung mit Bravour bestanden haben.

Was bringt dieser Druck noch hervor?

Bei der Größe des Landes überlegt man natürlich, wann es zweckmäßiger ist, dass die Geräte zu den Menschen statt die Menschen zu den Geräten kommen. Ist es der CT-Scan, der per Drohne von Dorf zu Dorf fliegt, oder der Ultraschallaufsatz für das Smartphone? Oder beides? Jedenfalls zeigen die chinesischen Krankenhäuser, dass es so wie immer nicht weitergeht. In China haben Krankenhäuser 4.000 bis 5.000 Patienten pro Tag. Die Charité mit ihren rund 100 Kliniken und Instituten hatte 2020 täglich rund 2.000 Patienten, ambulant und stationär.

Die durch die Digitalisierung getriebenen Innovationen lassen sich natürlich auch Exportchancen für die chinesische Industrie übersetzen.

Möglicherweise müssen wir uns darauf einstellen, dass in fünf bis zehn Jahren mehr Lieferungen von Medizintechnik von China nach Deutschland als in die umgekehrte Richtung gehen. Es besteht ein beachtliches Risiko, dass wir diesen Markt verlieren, auch weil die Innovationszyklen in China viel kürzer sind. Diese Entwicklung wird in der Medizin-Software vielleicht schneller sein als in der Medizintechnik, wo die Deutschen noch sehr gut sind. Der Trend zu chinesischen Eigenentwicklungen ist aber nicht zu übersehen. Und wir tun gut daran, ein Früherkennungssystem zu entwickeln, damit wir keine bösen Überraschungen erleben und es uns so geht wie den Chinesen im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution.


Wir müssen aufpassen, dass wir nicht entscheidende Entwicklungen übersehen, wie wir es in der Autoindustrie getan haben. Solange der Verbrennungsmotor den Markt dominierte, waren die deutschen Autos denen aus chinesischer Produktion haushoch überlegen. Der Elektromotor hat das grundlegend geändert. In diesem Bereich ist es den Chinesen erstmals gelungen, eine für den Westen zentrale Branche gegen dessen Willen in eine neue technologische Richtung zu schupsen. Einfach, indem sie in China, dem wichtigsten Wachstumsmarkt weltweit, Quoten zur Herstellung von E-Autos eingeführt haben. Plötzlich bestehen moderne Autos aus drei zentralen Innovationskomponenten: Batterie, Vernetzung, Design. Bei den Batterien sind sie zusammen mit Südkorea führend und auch bei der Vernetzung des Autos, die schließlich in das autonome Fahren mündet. Designer wiederum kann man einkaufen. Und schon spielt man vorne mit und hat Global E-Auto Player, die sich wie BYD bei den weltweiten Verkaufszahlen zwischen BMW und Daimler tummeln. Andere Branche werden folgen.

1 BYD: chinesisches Technologieunternehmen mit Sitz in Shenzhen. BYD ist das Akronym für „Build your dreams“. Weltweit ist das Unternehmen der größte Produzent von Akkumulatoren, vor allem für Mobiltelefone. Zudem ist ein Tochterunternehmen einer der größten Automobilproduzenten Chinas; 2022 wird BYD vorrausichtlich als zweiter Herstellers von NEVs weltweit nach Tesla die Marke von 1 Millionen verkauften Autos durchschlagen.

Müssen wir uns darauf einstellen, dass wir auch für chinesische Produkte und Dienstleistungen mit unseren Daten bezahlen werden?

Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn es chinesischen Versicherungen gelingt, dadurch, dass sie Zugriff auf viele Daten haben, die Lebenserwartung signifikant zu verändern, dann ist das auch für Menschen im Westen ein attraktives Konzept. In der Krebstherapie sind auch bei uns Genomanalysen z.B. bei Brustkrebs Standard, um die richtige Therapie auszuwählen. Diese Entwicklung steht erst am Anfang, und China wird da eine wichtige Rolle spielen.

Sie haben von dem Technologiehunger der Chinesen gesprochen. Das führt dazu, dass die chinesischen Internetplattformen noch schneller wachsen als die US-amerikanischen Unternehmen wie Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google (FAANG). In den westlichen Medien spricht man deshalb häufig von BAT: den drei großen Plattformen Baidu, Alibaba und Tencent.

Wie eben schon kurz ausgeführt, sind diese und eine Vielzahl anderer Firmen entstanden, weil der chinesische Staat sich bewusst für Eigenentwicklungen entschieden hat, anders als die Europäer, die sich von FAANGs ohne eigene kreative Anstrengungen einfach haben überrollen lassen. Inzwischen sind die chinesischen Entwicklungen aber mehr als Nachahmerprodukte: TikTok ist inzwischen die App, die weltweit am häufigsten runtergeladen wird. Und was hat Europa? Nichts dergleichen.

Die drei „Fledermäuse“ Baidu, Alibaba und Tencent (BAT)

Baidu ist das zensierte, chinesische Google. Google ist in China offiziell verboten. Baidu ist somit die wichtigste Suchmaschine in China mit einem Marktanteil von knapp 80 Prozent2 (Google: unter 5 Prozent). Das Unternehmen bietet mit Baidu Baike das chinesische Pendant zu Wikipedia an3. Die Suchmaschine verfügt auch über Angebote zu Cloud-Computing, mobilen Bezahldiensten oder Reiseportalen. Baidu sieht sich als Vorreiter bei Künstlicher Intelligenz und ist auch in den Markt von selbstfahrenden Autos eingestiegen4.

Alibaba wurde 1999 von dem Englisch-Lehrer Jack Ma gegründet und ist nach eigenen Angaben die größte IT-Firmengruppe Chinas. Als das chinesische Amazon fungiert Alibaba als Plattform, die chinesische Hersteller und deren Produkte mit westlichen Händlern verknüpft5. Nach Amazon ist Alibaba die zweitgrößte Handelsplattform der Welt, allerdings mit deutlich größerem Wachstum. Über die Hälfte aller Online-Handelsumsätze in China laufen über Alibaba. In den USA sind es für Amazon nicht einmal 40 Prozent. Die Tochterfirma Taobao bietet Privatpersonen ähnlich wie bei eBay Inc. die Möglichkeit, Produkte anzubieten und zu kaufen. Auf dem chinesischen Markt verfügt Taobao über einen Marktanteil von 99 Prozent6. Tmalls Geschäftsmodell ähnelt dem von Amazon. Alipay ist ein Bezahldienst wie Apple- oder Google Pay. Seine zahlreichen Tochterunternehmen eingerechnet, kontrolliert Alibaba rund 80 Prozent des chinesischen E-Commerce Marktes7. Der Börsengang an der New York Stock Exchange 2014 war damals der größte Börsengang der Welt8.


Tencent ist mit Produkten wie Fortnite, Candy Crush oder World of Warcraft die größte Gaming-Plattform und der größte Hersteller von Videospielen weltweit9. WeChat hat über 1,26 Milliarden User und ist damit eine von fünf globalen Plattformen, die über 1 Milliarden liegen. WeChat ist nicht nur ein Messenger Dienst, Nutzer können damit auch Taxis und Lebensmittel bestellen sowie Restaurant- und Stromrechnungen bezahlen. Man kann auch Jobs suchen, Arzttermine buchen und sogar Visa für die USA beantragen10. Wie die beiden anderen BAT-Mitglieder verfügt Tencent auch über ein eigenes Bezahlsystem: WeChatPay11 . Mit Alipay ist WeChatPay der Marktführer bei chinesischen mobilen Bezahlzahlsystemen, in einem Land, in dem fast nur mobil bezahlt wird.


Aktien aller drei Unternehmen werden inzwischen auch in Deutschland, Europa und den USA gehandelt.

Wie passt es zu dem Bild, das Sie von der chinesischen Digitalpolitik vermitteln, dass 2021 der Staat den Plattformen Grenzen auferlegt hat. Einige Unternehmen hatten dadurch Kursverluste von zeitweise über 50%. Und die Gesundheitssparte war zeitweise noch überproportional betroffen, z.B. Alibaba Health Information Technology stärker als der Mutterkonzern.

Wie in den USA und der EU auch, denkt der chinesische Staat darüber nach, die Macht der Plattformen zu begrenzen. Das ist aber keine grundsätzliche Abkehr von der bisherigen Politik. Der chinesische Staat verfolgt damit vier Ziele:

  1. Man darf nichts machen, was die Stabilität des chinesischen Staates gefährdet. Deshalb betraf eine Intervention auch ein Unternehmen, das Mikrokredite über eine App zur Verfügung stellt. Das wurde so mächtig, dass der Staat um die Stabilität des Finanzsystems fürchtete.
  2. Der zweite Grundsatz ist, dass man Monopolen entgegenwirkt. Die Firmen sind so finanzstark, dass sie jeden auch noch so kleinen Wettbewerber erst einmal vom Markt kaufen können, um dann in Ruhe zu entscheiden, ob sie ihn leben oder sterben lassen. Der Staat will aber mehr Wettbewerb, mehr Vielfalt. Damit sinkt das Risiko, dass ein Unternehmen den Staat aushebeln kann.
  3. Außerdem ist es das Ziel der Interventionen, die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter zu verbessern, also zum Beispiel die Löhne für die Menschen zu verbessern, die für Lieferservices arbeiten oder zu verhindern, dass sich Mitarbeiter nicht trauen, ihren Urlaub zu nehmen oder abends vor 23 Uhr nach Hause zu gehen.
  4. Und schließlich will man Gesundheitsschäden verhindern, die durch suchtartiges Verhalten gegenüber neuen Technologien entstehen. Deshalb hat die Regierung jüngst das Online-Gaming für Jugendliche stark beschränkt, so wie in Südkorea und Japan auch.

Das Innovationstempo wird sich aber nach Ihrer Meinung durch die staatlichen Maßnahmen gegenüber den Internetplattformen nicht verlangsamen?

Was wir die vergangenen fünf Jahre gesehen haben, sind erst Aufwärmübungen. Warmlaufen. Das Innovationstempo wird sich weiter rasant beschleunigen.

Was wir die vergangenen fünf Jahre gesehen haben, sind erst Aufwärmübungen

Wird Deutschland mit dem Innovationstempo mithalten können?

Auf keinen Fall sollten wir China unterschätzen, sondern die Herausforderungen annehmen, die auf uns zukommen. Gefährlich wird es, wenn wir die Entwicklungen in China als modern abtun, die schon wieder vorbeigehen werden. Oder als Blase, die platzen wird. Es bringt auch nichts, die chinesische Regierung als böse Kommunisten abzutun, weil ihre Vorstellungen nicht unseren Werten entsprechen. Wir können China zu nichts mehr zwingen. Aber wir können und sollten versuchen, sie davon zu überzeugen mit den guten Argumenten unserer langen Erfahrung, dass mehr zivilgesellschaftliche Mitbestimmung, mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Pressefreiheit auf Dauer nachhaltiger ist. Und dass es zwar kurzfristig Ruhe bringt, politische Minderheiten wie Hongkong oder ethnisch-religiöse Minderheiten wie Xinjiang einfach wegzusperren, dass es aber die Probleme langfristig nicht löst, ja sie sogar verstärken kann.

Umgekehrt sollten wir möglichst früh schauen, wie wir sinnvolle technologische Innovationen aus China mit unserem Wertesystem synchronisieren können, statt sie zu verteufeln, nur weil sie in China in einer Weise benutzt werden, die sich mit unseren Werten nicht vereinbaren lässt.

Die intelligente Nutzung der chinesischen Gesundheitsdaten wird Therapieoptionen verbessern, von denen auch Menschen in Deutschland und Europa profitieren werden. Datennutzung kann eben gleichzeitig Leben retten und Leben überwachen. Unsere Aufgabe ist es für unsere Welt, das eine zu maximieren und das andere zu minimieren und nicht das Land, in dem die Erfindungen gemacht wurden, dafür zu strafen oder zu loben. Wir sind nicht die Weltpolizei. Die Zeiten, in denen die Minderheit des Westens die Spielregeln der Mehrheit der Welt bestimmen konnten, sind wahrscheinlich ein für alle Mal vorbei. Je früher wir uns darauf einstellen, desto besser.

Was raten Sie Deutschland?

Auf alle Fälle müssen wir den Fehler vermeiden, den die Chinesen mit der Unterschätzung der industriellen Revolution gemacht haben. Wir müssen offen sein für die Möglichkeit, dass China Innovationen herbringt, die unser Leben nachhaltig verändern werden. Wir müssen uns mit China beschäftigen und offen für die Entwicklungen sein, wissend, dass jede Technologie Vor- und Nachteile hat. Deshalb ist mein jüngstes Buch „Shenzhen – Zukunft made in China“ entstanden. Wenn man wissen will, wie die Zukunft aussieht, muss man nach China und besonders nach Shenzhen schauen, dem neuen Silicon Valley. Was dort heute erdacht und erfunden wird, wird morgen unser Denken und Handeln in Deutschland beeinflussen. Mindestens so stark wie es das Silicon Valley tut.

Von China lernen heißt siegen lernen?

Es geht nicht um Siegen, es geht um eine gemeinsame, lebenswerte Welt, von deren Beschaffenheit wir allerdings durchaus unterschiedliche Vorstellungen haben in Asien und im Westen. Am Ende geht es dabei stets um die Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft. In China neigt sie eher in Richtung Gemeinschaft, im Westen eher in Richtung Individuum. In manchen Bereichen werden wir Kompromisse finden müssen, darunter werden auch schmerzhafte sein. In anderen Bereichen werden verschiedene Ich-Wir-Balancen nebeneinander existieren können, mehr Vielfalt ist möglich.


Wichtig dabei ist, dass wir endlich anfangen, uns mit diesen Fragen zu beschäftigen, statt mit erhobenem Zeigefinger zu hoffen, alles gehe so weiter, wie wir wollen. Denn eines ist klar: Je früher wir damit anfangen, desto größer ist unser Spielraum, unsere Vorstellungen des Zusammenlebens in die neue Weltordnung des 21. Jahrhunderts einzubringen.

Herr Sieren, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!