Die Vision
Es war einmal eine Zeit, in der Smartphones auf den Markt kamen und die Leute von den damit verbundenen Datendienstleistungen derart begeistert waren, dass es innert 14 Jahren weltweit mehr Smartphones als Zahnbürsten auf der Welt gab (Gunnarsson 2019). Smartphones befriedigten ein Bedürfnis nach digitaler Verbundenheit, wessen man sich noch nicht so richtig bewusst war. Mit der Benützung von Gratis-Datendienstleistungen auf diesen Geräten nahm man stillschweigend in Kauf, dass die eigenen Daten von den Anbietern der Smartphones und den App-basierten Datendienstleistungen gesammelt, aggregiert und kommerziell genutzt wurden. Schnell gewöhnte man sich an diese Gratis-Dienstleistungen. Diejenigen Konzerne, die die meisten Daten hatten, konnten damit die besten Algorithmen entwerfen und so die besten Datendienstleistungen anbieten. Roche kaufte aus diesem Grund 2018 für 1,9 Milliarden Dollar die US-Firma Flatiron, die zwei Millionen Krankenhausdaten von amerikanischen Krebszentren digitalisiert hatte (Gross 2018).
Die Schweiz und Europa sahen sich plötzlich mit zwei unterschiedlichen Modellen digitaler Überwachung konfrontiert. Im Überwachungskapitalismus waren es hauptsächlich amerikanische globale IT-Konzerne, welche die Hoheit über personenbezogene Daten für rein kommerzielle Interessen nutzten (Zuboff 2018). Im digitalen Überwachungsmodell Chinas war der Staat die treibende Kraft (Lee 2018). Diese beiden Modelle etablierten sich weltweit, während man in der Schweiz und Europa immer noch über die Einführung eines elektronischen Patientendossiers und einer elektronischen Identität (E-ID) diskutierte.
Bis eines Tages Leute, Firmen und Unternehmerinnen und Unternehmer in der Schweiz und Europa realisierten, dass nur wir als Individuen berechtigt sind, all unsere eigenen personenbezogenen Daten zu sammeln und zu aggregieren und dass wir somit eine einmalige Macht besitzen.
In der Tat gibt die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) uns Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf eine Kopie all unserer Daten. Wenn wir einwilligen, Kopien unserer Daten in anonymisierter Form in Datenallmenden (Allmend = Schweizerisch für Allmende, gemeinschaftliches Eigentum; „data commons“) nutzbar zu machen, kann ein viel größeres, paralleles Datenuniversum entstehen. Werden diese Datenallmenden von bürgerkontrollierten Datengenossenschaften oder von Firmen, an denen wir uns beteiligen können, verwaltet, werden nicht nur Firmen, sondern auch wir als Individuen und als Gesellschaft vom Wert unserer aggregierten Daten profitieren (Hafen 2019).
Aus diesem Grund begannen Patientenorganisationen, Firmen und Versicherungen auf dem Datenallmendmodell neue personalisierte Datendienstleistungen zu entwickeln, die für uns Patienten und gesunde Individuen so attraktiv waren, dass wir bereit waren, dafür – wie für den Kaffee im Restaurant – zu bezahlen, um im Gegenzug die Hoheit über unsere Daten zu behalten. Wir beauftragten die Verwalter der Datenallmenden (Genossenschaften oder Firmen mit Bürgerbeteiligung) als Treuhänder, Kopien unserer Daten einzufordern und zu strukturieren. Bis schließlich sich unser bürgerzentriertes Datenallmendmodell in der Schweiz, Europa und in Ländern niedrigen und mittleren Einkommens durchsetzte.
Die Schweiz und Europa wurden zu Vorreitern der Demokratisierung der Datenökonomie.
Wir verfügen als Individuen in allen Ländern über ähnlich viele personenbezogene Daten. Zum Beispiel sind alle Menschen Milliardäre in Genomdaten, denn jeder von uns besitzt einen einzigartigen Satz von 6 Milliarden Basenpaaren in der DNA seines Erbguts. Pharmazeutische Firmen realisierten, dass die Datenallmenden mehr und, dank der über mobile Geräte kontinuierlich erfassten Gesundheitsinformationen, aktuellere Daten besitzen als Firmen wie Flatiron. So waren sie bereit, einen wesentlich höheren Preis für den Zugang zu diesen Daten zu bezahlen. In Analogie zur Finanzdienstleistungsindustrie entstanden neue Datendienstleistungen von Start-ups und großen Firmen sowie neue Jobs. So machten wir in der Schweiz und in Europa als Individuen und als Benutzer dieser neuen fairen Datendienstleistungen von der Macht unserer eigenen Daten Gebrauch und wurden zu Vorreitern der Demokratisierung der Datenökonomie gegenüber den veralteten Modellen des Überwachungskapitalismus und der Staatsüberwachung und schufen die Grundlage für eine faire personalisierte Gesundheitsversorgung.
Im vorherrschenden von mehrheitlich amerikanischen Internetkonzernen dominierten Modell des Überwachungskapitalismus bezahlen Bürger mit ihren Daten für Gratis-Datendienstleistungen. In der Staatsüberwachung Chinas bestimmt der Staat über die Nutzung personenbezogener Daten. Im hier vorgestellten alternativen europäischen Modell kontrollieren die Bürger den Zugang zu ihren Daten in demokratisch verwalteten Datengenossenschaften. Die Genossenschaften regeln den Zugang von Drittparteien zu einer Datenallmend mit anonymisierten, von den Mitgliedern freigegebenen Daten gemäß fairen und transparenten Richtlinien. So kommt die Wertschöpfung den Bürgern und der Gesellschaft zugute (s. Abb. 1).